„Es waren einmal eine Mutter und ihr Sohn…“. Eine ganz persönliche Geschichte

Liebe Freunde,

 im Jahr 1992 erklärte die UNO-Generalversammlung den 3. Dezember zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ und rief alle Regierungen auf, Maßnahmen durchzuführen zum vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen und ihrer vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft.

 Die Hilfsprojekte für Menschen mit Behinderungen sind einer der Schwerpunkte unserer Arbeit.

Wir hatten in der Vergangenheit, haben jetzt und werden auch in der Zukunft immer solche Projekte haben.

 Bei unserer Arbeit sind wir bestrebt, die soziale und kulturelle Integration eines jeden behinderten Teilnehmers unserer Projekte in die Gesellschaft zu fördern und ihm ein volles und erfülltes Leben zu ermöglichen.

 Wir möchten mit Ihnen, liebe Freunde, eine interessante Geschichte eines der Begünstigten unserer Projekte teilen.

 Wie sollen wir diese Geschichte beginnen? Mit: Es war einmal...?

Es waren tatsächlich einmal eine Mutter und ihr Sohn.

 Sie kamen aus einer fernen Stadt von einer anderen Seite unseres großen Landes. Sie hatten keinen Wohnsitz und mussten eine Wohnung mieten. Die Mutter benötigte drei verschiedene Arbeitsstellen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

 Der Sohn war schon erwachsen. Anscheinend konnte er sich selbst versorgen. Aber in Wahrheit gestattete seine Behinderung ihm nicht, ein völlig selbständiges Leben zu führen. Er bedurfte der Hilfe seiner Mutter.

 Es fiel der Mutter schwierig, für alles allein zu sorgen. Sie war den ganzen Tag zwischen ihren drei Arbeitsstellen und ihrem Zuhause unterwegs. Manchmal musste sie ihren Arbeitsgeber um Erlaubnis bitten, früher die Arbeitsstelle zu verlassen, weil sie ihren Sohn suchen musste, der irgendwo in der Stadt verloren gegangen war. Die Arbeit und die Fürsorge für ihren Sohn kosteten sie viel Kraft. Für sich selbst hatte sie überhaupt keine Zeit mehr übrig.

 Einmal hörte die Mutter von ihren Bekannten über das Bischof-Malecki-Förderzentrum für junge Behinderte, das ihrer Familie helfen könnte. So begann ihr Sohn, die Tagesstätte in der Uliza Kirillowskaja 19 zu besuchen.

 Zunächst fühlte er sich im Förderzentrum nicht wohl. Er kannte dort niemanden, saß die ganze Zeit auf dem Stuhl und pendelte von einer Seite auf die andere. Wenn ihm jemand eine Frage stellte, antwortete er zwar, aber die anderen konnten ihn nicht verstehen.

 So vergingen Tage, Wochen und Monate… Der Sohn nahm im Förderzentrum an Tischspielen, Arbeitsgruppen und Sportübungen teil und besuchte verschiedene kreative Übungen. Er versuchte zu singen, zunächst nur mit seinem Körper, indem er sich im Takt der Musik hin- und herschwang. Dann fing er an, auf den Knien einen Rhythmus zu klopfen. Er malte und benutzte Lärminstrumente, nahm an Theaterproben teil, unterhielt sich mit anderen Behinderten, mit Mitarbeitern und Ehrenamtlichen des Zentrums.

 Die Mutter erzählte den Mitarbeitern mit Freude, wie wichtig es für sie sei, dass ihr Sohn nun einen Umgangskreis habe und Menschen, die sich mit ihm unterhielten. Die Mutter beschwerte sich einmal, dass sie versuche, ihrem Sohn das Lesen beizubringen, und dass sie Hilfe brauche, weil er sie als Lehrerin nicht wahrnimmt. Die Mitarbeiter des Zentrums begannen, mit ihm Buchstaben zu lernen. Bei den Übungen malten sie die Buchstaben mit Farben, zeichneten sie mit Stiften und modellierten sie aus Knete. Dann kam der Sommer, alle verließen das Zentrum für die Ferien.

 Als alle Behinderten im Herbst zurückkehrten, stellte man fest, dass der Sohn keinen einzigen der Buchstaben vergessen hatte, sondern sie sogar zu Silben und kurzen Worten zusammensetzen lernte. Der Sohn dieser Mutter kehrte ins Förderzentrum als ein ganz anderer Mensch zurück. Er begann, die Wörter deutlicher auszusprechen. Die anderen konnten ihn jetzt besser verstehen. Er kümmerte sich in der Tagesstätte um die Ordnung, ging aufgeschlossener mit anderen Menschen um. Er lachte öfter, wurde geselliger und entwickelte mehr und mehr eigene Initiativen.

 Diesen Veränderungen folgte der Bedarf an anderen, erwachseneren Beziehungen, an höherer Selbständigkeit, an weiteren Rechten und größerer Verantwortung.

 Einmal kehrte der Sohn aus dem Förderzentrum später nach Hause zurück und ließ sich dann im Förderzentrum eine ganze Woche nicht mehr sehen. Es stellte sich heraus, dass er um das Haus herum spazieren ging, in einen Supermarkt einkehrte und beschloss, den dortigen Angestellten zu helfen, Warenkörbe zusammenzustellen. Die Zeit verging wie im Fluge. Die Angestellten des Ladens dankten ihm für die Hilfe und belohnten ihn mit Schokolade. So fand der Sohn eine Arbeit und ging jeden Tag dorthin. Es gelang ihm zwar noch nicht, seinen Tag so einzuteilen, dass er sowohl ins Förderzentrum als auch zur Arbeit gehen konnte. Die Mitarbeiter des Zentrums jedoch beschlossen ihm zu helfen, einen geeigneten Tagesplan zusammenzustellen: Am Vormittag besuchte er die Aktivitäten des Zentrums, fuhr zum Mittagessen nach Hause und ging danach in den Laden zur Arbeit.

 Die Mutter freute sich sehr darüber, wie stark sich ihr Sohn veränderte. Er wurde zu einem anderen Menschen.

Es wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihr Sohn erwachsen wurde und sie sich ihm gegenüber nicht mehr wie zu einem kleinen Jungen verhalten konnte. Sie freute sich darüber und fürchtete sich gleichzeitig vor dieser Entdeckung…

Diese Geschichte hat kein Ende, sondern nur eine Fortsetzung…